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Marco Polo, Il Milione

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Publiziert von Manesse, Bibliothek der Weltliteratur, 1983

 

China – das Land der Träume für jeden Kaufmann des Mittelalters. Auf der Seidenstraße reisten Gold, Silber, Edelsteine und Glas nach Osten; aus China kam die wertvolle Seide, Porzellan, Jade und vor allem die kostspieligen Gewürze. Noch der kleinste Kaufmann träumte davon, einmal in dieses Land zu ziehen, um dort die Waren direkt einzukaufen, mit denen sich in Europa ein Vermögen verdienen ließ.

 

Doch China war groß und bestand aus vielen verschiedenen Provinzen, die alle ihre eigenen Handelsplätze hatten. Jeder einzelne Markt konnte einen unwissenden Händler ruinieren. Es galt, die Ware günstig einzukaufen, teuer zu verkaufen und zu wissen, welche Ware vor Ort wann gesucht wurde. Man musste die richtigen Zahlungsmittel dabei haben und die örtlichen Verhältnisse kennen. Der Erfolg eines jeden Kaufmanns beruhte im Mittelalter vor allem auf seiner Erfahrung und seinem Wissensvorsprung. Wissen war bares Geld wert und man gab bares Geld dafür aus, es zu erlangen. Teure Bücher vermittelten Wissen, vor allem wenn sie von einem erfahrenen Händler wie Marco Polo geschrieben worden waren.

 

Das Buch Polos ist nämlich nicht, wie manchmal zu lesen, eine nette Ansammlung von Sagen, Anekdoten und Märchen. Es ist der Erfahrungsbericht eines Kaufmanns, der all das notiert, was einem nach ihm kommenden Reisenden vielleicht noch von Nutzen sein könnte. Und was wäre für einen Kaufmann wichtiger als die umlaufenden Währungen, mit denen in den einzelnen Städten gezahlt wird? Marco Polo beschreibt sie detailliert. 2012 nutzte ein Tübinger Sinologe diese Genauigkeit, um damit nachzuweisen, dass Marco Polo tatsächlich in China war.

 

Nicht immer nämlich nahm man diese Tatsache als gegeben hin. Schon im Mittelalter zweifelten einzelne Autoren an der Authentizität von Polos Geschichten. Die Wunder erschienen ihnen zu wunderbar, die Zahlen zu groß und die Beschreibungen nicht glaubwürdig. Vielleicht hängt einiges davon mit der Überlieferungsgeschichte des Il Milione zusammen. So soll ein italienischer Romancier, der um 1298 zusammen mit Marco Polo in einem Genueser Gefängnis saß, das Buch nach Erzählungen Marco Polos geschrieben haben. Ob das stimmt? Wir wissen es nicht. Man kann sich leicht vorstellen, dass Polo mit einem Literaten zusammenarbeitete, um das trockene Material, das er in China gesammelt hatte, für ein breites Publikum lesbarer zu machen. Wie auch immer, das originale Manuskript ging verloren. Die älteste uns heute erhaltene Abschrift liegt in der Pariser Bibliothèque nationale und wurde in Altfranzösisch verfasst.

 

Noch zu Lebzeiten Marco Polos wurde sein Manuskript nämlich in viele Sprachen übersetzt. Ihm war ein einzigartiger Erfolg beschieden, und das in einer Zeit, in der es noch keine Druckerpresse gab. Uns sind rund 150 Handschriften in den verschiedensten Sprachen erhalten geblieben!

 

Warum die Menschen es lasen? Man darf darüber spekulieren. Es werden mit Sicherheit nicht allein die Wundergeschichten gewesen sein. Wer auch immer darüber nachdachte, mit China Handel zu treiben, für den war der Il Milione ein unentbehrlicher Begleiter. Und als Christopher Kolumbus plante, auf dem Seeweg nach Indien zu fahren, konsultierte er Polos Buch. Sein Exemplar ist uns erhalten geblieben, mit unzähligen handschriftlichen Anmerkungen des wohl prominentesten Lesers.

 

Ursula Kampmann

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