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Amiel und Die Tyrannei des Geldes

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Henri-Frédéric Amiel hat zeit seines Lebens ein Tagebuch geführt, das auf knapp 17'000 Seiten anwächst. Und doch bleibt der Genfer Philosoph im deutschsprachigen Raum für viele ein unbeschriebenes Blatt. Obwohl er viele uns bekannter Sinnsprüche geschrieben hat. Amiel war ein tiefsinniger Denker und ausgezeichneter Beobachter des bürgerlichen Genfs im 19. Jahrhundert. Obwohl sich der Philosoph im alltäglichen Leben ungern mit Geldangelegenheiten befasst hat, sinniert er über die Tyrannei des Geldes und sieht Entwicklungen voraus, die auch eingetreten sind. Der Kulturhistoriker Hans-Peter Treichler hat sich intensiv mit Amiel befasst. Er bringt uns den Philosophen und Menschen Amiel näher.

 

«Die Tyrannei des Geldes», ein Buch des Conzett Verlags, ist im Buchhandel erhältlich. Als E-Book ist das Werk in allen gängigen Shops erhältlich, z.B. als e-book bei amazon

 

«Tausend Dinge bewegen sich vorwärts; neunhundertneunundneunzig machen einen Schritt zurück. Das nennt man Fortschritt.»

Amiel
Man ist so alt, wie man sich fühlt.

In den nächsten Minuten stelle ich Ihnen den Mann vor, von dem dieses Zitat stammt: Henri-Frédéric Amiel, Professor aus Genf. Ein Optimist war er nicht – aber einer, der eine Botschaft hatte. Mein Name ist Ursula Kohler, ich bin Programmleiterin beim Conzett Verlag.

Vermutlich haben Sie in Ihrem Leben auch schon mal die tyrannische Seite von Geld kennen gelernt, die Abhängigkeit oder Macht erlebt, die mit Geld zusammenhängt, Träume gehabt, die am Geld zerplatzt sind. Amiel, der tiefsinnige Denker aus Genf, hat sich bereits im 19. Jahrhundert Fragen zur Tyrannei des Geldes gestellt. Er hat hinterfragt, was die Industrialisierung und Materialisierung der Welt mit uns Menschen anstellt. Seine visionären Gedanken sind auch heute noch von Interesse.

1821 wird Henri-Frédéric Amiel in Genf geboren. Als junger Gelehrter kehrt er nach Studienjahren im Ausland 1848 in seine Heimatstadt zurück. Fortan lehrt er an der Genfer Académie Ästhetik und Literatur. Über drei Jahrzehnte lang führt Amiel ein Tagebuch, das so genannte Journal intime. Bis an sein Lebensende 1881 wächst es auf unglaubliche 16’900 Seiten an. Zwei Jahre nach seinem Tod werden Auszüge daraus publiziert. Sie machen den Gelehrten posthum berühmt. Den grössten Bekanntheitsgrad erreichen jedoch einzelne Aphorismen aus seinem Werk. Sie machen sich selbständig, erscheinen auf Kalenderblättern und schmücken Jahrbücher. Die Kernsprüche finden grosse Verbreitung: «Man ist so alt, wie man sich fühlt» oder «Nichts ist so erfolgreich wie der Erfolg». Doch über ihren Urheber weiss man kaum etwas.

Heute liegt das Journal intime vollständig vor. Der Kulturhistoriker Hans-Peter Treichler hat sich intensiv mit Leben und Werk Amiels befasst. In seinem Buch «Die Tyrannei des Geldes» geht er dem Verhältnis des Literaten zum Geld nach. Doch mehr noch. Der Zweifler Amiel war ein scharfer Beobachter seiner Epoche. Er hat die umwälzenden Jahre in Genf um 1850 hautnah miterlebt und festgehalten. Seine Notizen geben uns einen lebendigen Einblick ins 19. Jahrhundert.

 

Das Wahrzeichen Genfs: die jets d'eau

Das Wahrzeichen Genfs: der jet d'eau

Lassen wir uns von Amiels Beobachtungen zu einem kleinen Stadtspaziergang verführen ? und tauchen wir in die Zeit ein, in der er gelebt hat.

Vom Genfer Bahnhof aus gelangen wir über die Pont du Mont Blanc zu Amiels Geburtsort, der Rue du Rhône. Heute stehen wir hier auf der angesagtesten Einkaufsstrasse Genfs.

Auf unserem Weg haben wir das Wahrzeichen der Stadt, den jet d'eau, entdeckt. Sie sind Denkmal des immensen Wandels, den Genf Mitte des 19. Jahrhunderts erlebt hat. Damals wurde der Befestigungsgürtel rund um die Stadt abgerissen. 1957 werden die Wasserfontänen eröffnet, da ist Amiel 36 Jahre alt. Er, der sein ganzes Leben in Genf verbringen wird, erlebt die Gründung der ersten Schweizer Börse in Genf ebenso wie den Konkurs der Banque Générale Suisse. Er kritisiert die Verehrung des Geldes und kümmert sich selbst nur mit grösstem Widerwillen um die eigenen Finanzen. «Die Tyrannei des Mammons ist erniedrigend», schreibt er. Als Gelehrter leidet er darunter, mit einem niedrigen Dozentenlohn auskommen zu müssen. Aber dem Reichtum nachzujagen, käme für ihn nicht in Frage, das findet er unwürdig. Hart kritisiert er, wie das Bürgertum an Besitz und Reichtum festhält. Anderseits befürchtet er bei der Entwicklung einer Gesellschaft mit gleichberechtigten Einzelwesen, dass der gesellschaftliche Unterschied allein vom Geld ausgehen wird.

Seine Überlegungen zur Gründung eines bürgerlichen Ehestands drehen sich vorwiegend um die nötige Mitgift. Hin und her gerissen ist der Junggeselle zwischen Kalkül und Sentiment, zwischen Geld und Liebe. Ob es nur am Geld gelegen hat, dass der Zauderer Amiel letztlich den Schritt in die Ehe nie gewagt hat, bleibt zu bezweifeln. An Verehrerinnen jedenfall schien es dem melancholischen Literaten nicht gemangelt zu haben.

1879: elektrische Beleuchtung in Genf

Gehen wir durch die Altstadt hoch und weiter bis zur Cathédrale Saint-Pierre: An diesem Platz bewohnt Amiel zwei Mansardenzimmer, die dem Hausstand seiner Schwester angegliedert sind. Erst 1869, mit 48 Jahren, wird Amiel sich zum ersten Mal in seinem Leben selbständig niederlassen. 1879 erlebt der 58-Jährige die elektrische Beleuchtung des Place Neuve. Seine Welt ist es nicht mehr. Wer in einer hell erleuchteten Welt die Nacht erfände, gälte als Wohltäter, sinniert er.

Die letzten Jahre verbringt Amiel in der Pension einer Freundin. Für seine letzte Ruhestätte hat Amiel vorgesorgt. Im Friedhof von Clarens bei Montreux, seiner bevorzugten Urlaubsgegend, hat er sich für 250 Francs einen Grabplatz gekauft. Hier gelten für den Reichen wie den Armen die gleichen Masse: sieben mal drei Fuss, meint er einmal lakonisch. Seine Ruhestätte hat Amiel für 40 Jahre reserviert und bezahlt. Wie konnte er ahnen, dass wir heute noch, fast 150 Jahre später, seine Grabstätte besuchen! Unzählige Stunden seines Lebens hat Amiel im Verborgenen an seinem Schreibpult gesessen. Sein Traum, mit einer Blütenlese aus Tausenden von Gedanken und Beobachtungen an die Öffentlichkeit zu gelangen, hat sich erfüllt. Man hätte es diesem feinfühligen Menschen, der sich tief in die Seele blicken lässt, früher gegönnt.

Was bleibt uns von Henri-Frédéric Amiel in Erinnerung? Amiel hat schon zu Beginn der Industrialisierung erkannt, dass wir uns der Tyrannei des Geldes unterordnen. Heute ist der Zwang des Geldes omnipräsent, der Wechsel von Altem zu Neuem noch rasanter. Was würde Amiel heute wohl in sein Tagebuch schreiben? 

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