Herbert George Wells, Die Zeitmaschine
Als Fortsetzungsroman von Januar bis Mai 1895 in „The New Review“ erstmals publiziert, und noch im selben Jahr als Buch veröffentlicht
Wer ist mehr wert? Die Shopping Queen oder die unterernährte Näherin in Bangladesch? Der Gourmet oder sein Kellner? Der Fabrikant oder der Fabrikarbeiter? Ist es überhaupt sinnvoll, mit dem Wert eines Menschen zu argumentieren, wenn es um gesellschaftliche Veränderung geht? H. G. Wells philosophiert deshalb nicht über das Elend der englischen Unterschicht in seinem Roman „Die Zeitmaschine“, um eine politische Kursänderung zu bewirken, sondern er macht eine gleichgültige Oberschicht darauf aufmerksam, wohin ihre teilnahmslose Gedankenlosigkeit führen könnte.
Werfen wir einen Blick auf das England des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Die bäuerliche Gesellschaft gehört der Vergangenheit an. Die Stadt ist zur Normalität geworden. Sie wächst dort, wo es Fabriken oder Bergwerke gibt, in denen die unzähligen Arbeiter ihren Tageslohn verdienen. Zu viel zum Sterben, zu wenig zum Leben, der Lohn für die Arbeit in der Fabrik reicht gerade für ein kleines, armseliges Quartier in einer dunklen Straße. Während die Reichen und Schönen an breiten Straßen in eindrucksvollen Häusern mit hohen Räumen und hellem Gaslicht leben, vegetieren die Arbeiter in Enge, Schmutz und Dunkelheit.
Und aus diesem ausgehenden 19. Jahrhundert reist der Zeitreisende mit seiner Zeitmaschine direkt ins Jahr 802.701. Eine gewaltige Zeitspanne, in der Kulturen zerfallen und sich neue entwickeln können. Tatsächlich, die Menschheit ist nicht mehr dieselbe. Der Zeitreisende beschreibt begeistert das Paradies, das diese glückliche Zukunft wieder erschaffen hat. Wohin er sieht, beschäftigen sich junge, schöne Menschen damit, nichts zu tun. Sie singen, tanzen und spielen. Ein kommunistisches Idyll, so die Deutung des Zeitreisenden. Die Eloi, wie er sie nennt, scheinen kein Eigentum, keinen Kampf ums nackte Dasein zu kennen. Sie leben im Frieden, alles Lebensnotwendige steht bereit. Sie haben die ewige Glückseligkeit für sich gepachtet. Doch der Schein trügt. Sie haben kein Interesse an einem gemeinsamen Dasein. Das Schicksal der anderen ist ihnen gleichgültig. Der Zeitreisende sieht, wie eine Frau fast ertrinkt, während um sie herum die Menschen lachen und plaudern, ohne ihren Kampf um ihr Leben überhaupt zur Kenntnis zu nehmen.
Eine einzige Sorge haben die Eloi. Sie fürchten die Dunkelheit. Warum, auch das lernt der Zeitreisende. In der Dunkelheit lauern die Morlock. Sie leben tagsüber in Tunneln unter der Erde und kommen nur nachts zum Vorschein. Es ist die anstrengende Arbeit der Morlocks, die den Eloi ihr sorgenfreies Leben ermöglicht. Der Zeitreisende glaubt, seine eigene Zweiklassengesellschaft wieder zu erkennen. Und doch ist alles ganz anders! Entsetzt beobachtet der Zeitreisende, dass die Morlock von Menschenfleisch leben. Die Eloi sind ihr Schlachtvieh, das sie mästen, ehe sie es töten!
H. G. Wells hat mit seinem Roman eine Warnung für seine Zeitgenossen ausgesprochen. Für ihn ist klar: Nur wer durch Mühen und Gefahren gefordert wird, übt seinen Kopf und seinen Körper. Der Autor wendet den damals äußerst modernen Sozialdarwinismus an: Einer Oberschicht, die sich dem Müßiggang hingibt und für das gemeinsame Wohl überflüssig wird, droht die Vernichtung.
Wells war 29 Jahre alt, als er seine „Zeitmaschine“ schrieb. Er schuf damit den ersten Roman, in dem eine Zeitreise durchgeführt wird. Es sollte nicht die einzige Idee bleiben, die in unsere Vorstellungswelt eingegangen ist. 1914 prägte Wells in seinem Roman „Befreite Welt“ den Begriff der „Atombombe“ und kämpfte danach sein Leben lang dafür, die ganze Welt in einem Staat zu vereinen, um den Einsatz einer solchen schrecklichen Bombe zu verhüten. Er scheiterte und widmete nach Hiroshima und Nagasaki sein letztes Werk einem neuen Menschengeschlecht, das die gescheiterte Menschheit ersetzen und eine neue, bessere Welt schaffen sollte.