Joseph Roth, Radetzkymarsch
Publiziert von Manesse, Bibliothek der Weltliteratur, 2010
Möchten Sie über das Ende der Welt, Ihrer Welt reden? Dazu gehören die unangenehmen Dinge im Leben: vom Klimawandel und Migrantenmisere bis hin zu Altersarmut und Wohnungsnot. Meist verschliessen wir davor unsere Augen so lange es geht und leben im Blindflug. Doch wie das enden kann, sehen wir an den Menschen in Österreich-Ungarn vor 150 Jahren, die geradewegs auf das Ende ihres Landes zusteuerten. Niemand zeichnete diese Zeit vor dem Abgrund so einfühlsam und hingebungsvoll wie Joseph Roth (1894-1939).
Geprägt vom frühen Verlust des Vaters und dem späteren Verlust seines Vaterlandes erschrieb sich der galizische Jude Roth nach dem Ersten Weltkrieg seine Rolle als Chronist der untergegangenen Habsburgermonarchie; Höhepunkt seines Schaffens ist „Radetzkymarsch“, erstmals veröffentlicht 1932.
Darin begleiten wir die Familie Trotta ein halbes Jahrhundert lang. In einem dramatischen Auftakt rettet Leutnant Trotta Kaiser Franz Joseph I. das Leben während der Schlacht von Solferino 1859. Zum Dank wird der Offizier geadelt und befördert, das Schicksal seiner Familie ist fortan eng verbunden mit dem seines Landes. Alle Trottas prägt Pflichtbewusstsein und Aufopferung für den Kaiser. Eine mythisch verklärende Darstellung von Trottas Tat (der „Held von Solferino“) im Geschichtsbuch seines Sohnes treibt ihn bis vor den Kaiser persönlich („Man hat mit mir Missbrauch getrieben. Ich habe nie bei der Kavallerie gedient.“) – und danach verbittert in den Ruhestand. Sohn Franz wird gehorsam Bezirkshauptmann und zwingt seinerseits seinen Sohn Carl Joseph in die militärische Karriere, die ihm selbst versagt war. Langeweile treibt Carl Joseph in die Spielsucht, Trübsal in die Arme des Alkohols. Die Menschen handeln im Korsett der alten Werte; die adeligen Offiziere duellieren sich wegen Nichtigkeiten – weil man es eben so von ihnen erwartet. Um sie herum ändert sich die Welt, aber die Trottas und der Adel verharren in ihrer Blase.
Seite um Seite zieht Roth uns Leser tiefer in den Bann der Zeit, das prächtige Wien kontrastiert mit der armseligen Provinz, die Bescheidenheit im Haushalt des Bezirkshauptmanns mit dem Zwang nach Prunk unter den Offizieren. Doch wirklich wahrhaben möchte niemand die Zeichen der Zeit, alle verschliessen die Ohren vor dem Donnergrollen des herannahenden Unwetters über Europa, vor den lautstarken Forderungen der Minderheiten nach politischer Gleichbestimmung, ja Unabhängigkeit. Und so gefesselt wie wir uns in den Salons und Baracken bewegen, erschüttern uns die klarsichtigen Worte des polnischen Grafen Chojnicki ebenso wie den alten Bezirkshauptmann: „Natürlich, wörtlich genommen, besteht die Monarchie noch. Wir haben noch eine Armee und Beamte. Aber sie zerfällt bei lebendigem Leibe. Sie zerfällt, sie ist schon verfallen! Ein Greis, dem Tode geweiht, von jedem Schnupfen gefährdet, hält den alten Thron, einfach durch das Wunder, dass er auf ihm noch sitzen kann. Wie lange noch, wie lange noch? Die Zeit will uns nicht mehr! Diese Zeit will sich erst selbständige Nationalstaaten schaffen!“
Als Leitmotiv seines Requiems auf die Habsburger wählte Roth treffenderweise den Radetzkymarsch. Mit diesem Stück spielt er für seine Protagonisten auf zum Tanz auf dem Vulkan. Der alte von Trotta verschliesst sich dem Wandel bis zuletzt. Jahraus jahrein lässt er jeden Sonntag vor seinem Haus den Radetzkymarsch spielen: „Einmal in der Woche war Österreich.“
Björn Schöpe