Jules Verne, Reise um die Erde in achtzig Tagen
Publiziert von Diogenes, 1987
Der Abenteuerroman „Reise um die Erde in achtzig Tagen“, auch bekannt unter dem Titel „In achtzig Tagen um die Welt“ (1873) ist eines dieser Bücher, die nahezu jedem bekannt sind und deren Inhalt man zu kennen glaubt, ohne sie je gelesen zu haben. Tatsächlich ist es jedoch sehr lohnenswert, das bekannteste Werk des französischen Autors Jules Verne einmal wirklich zur Hand zu nehmen. Denn es ist weit mehr als nur der Roman von einem Wettrennen um die Welt.
Wir befinden uns in London Anfang der 1870er Jahre. Phileas Fogg, ein reicher Gentleman, wettet mir seinen Freunden im Reform Club, dass es er schafft, in achtzig Tagen einmal um die Welt zu fahren. Der Wetteinsatz ist die Hälfte seines Vermögens: 20.000 Britische Pfund, was heute etwa zwei Millionen Pfund Sterling wären. Noch am selben Abend bricht er auf, zusammen mit seinem Diener Passepartout. Ihre Reise führt zunächst über den Suez-Kanal nach Indien und dann mit dem Schiff weiter nach China und Japan.
Bald ergeben sich jedoch Komplikationen. Durch eine Verwechslung werden Fogg und Passepartout von einem englischen Detektiv namens Mr. Fix verfolgt, der davon überzeugt ist, Fogg habe eine Londoner Bank ausgeraubt. In Indien bekommen die Männer zudem noch eine weibliche Begleiterin namens Aouda dazu, die sie vor einem rituellen Opfertod retten müssen. Und auch nach der Schiffsreise nach Amerika, wo sie sich schliesslich mit der Eisenbahn fortbewegen, scheinen die Zwischenfälle und Abenteuer kein Ende zu nehmen. Eine rechtzeitige Rückkehr nach London wird immer unwahrscheinlicher.
Jules Verne (1828-1905) wird heute oft als „Father of Science Fiction“ bezeichnet. Im Fall von „Reise um die Erde in achtzig Tagen“, musste Verne sich aber erstaunlich wenig ausdenken. Der Roman entstand zu einer Zeit, wo die Umkreisung der Welt durch die Fertigstellung des Suez-Kanals und durch die verbesserte Eisenbahnstrecke durch Amerika, die First Transcontinental Railroad, einfacher geworden war als jemals zuvor. Um 1870 erschienen plötzlich zahlreiche Artikel und Reiseberichte von Reisenden, die die Welt in Rekordzeit umrundet hatten. Somit verarbeitet Jules Verne letztlich das, was er in Zeitungen las, zu einem der erfolgreichsten Abenteuerromane aller Zeiten.
Aus heutiger Sicht ist Phileas Foggs Reise um die Welt deshalb faszinierend, weil sie sinnbildlich für eine bestimmte Haltung der west- und mitteleuropäischen Gesellschaft ist. Fogg reist nicht etwa nach Indien, China oder Amerika um die Länder kennen zu lernen oder sich mit deren Kulturen auseinander zu setzten. Es geht ihm lediglich darum, so schnell wie möglich ans andere Ende der Welt und zurück zu gelangen – es ist hauptsächlich eine Wette um Geld. Auf diese Weise wird die Haltung des Kolonialisten, des reichen Briten, deutlich. Ob bewusst oder unbewusst, Verne beschreibt hier durch seine Figuren die Haltung seiner Zeitgenossen zum Rest der Welt.
Vor diesem Hintergrund ist es heute umso spannender, „Reise um die Erde in achtzig Tagen“ zu lesen. Der Roman ist einerseits immer noch eine der packendsten Abenteuergeschichten, die je verfasst wurden. Andererseits hat der Roman jedoch auch das Potential, seine Leser an die eigene Position innerhalb der Welt zu erinnern und sie zum nachdenken zu bringen. Wie ist unser persönliches Verhältnis zu ärmeren Ländern? Wonach suchen wir, wenn wir uns für Spottpreise ins Flugzeug setzen und in wenigen Stunden um die halbe Welt fliegen? Und könnte es nicht sein, dass erstaunlich viele Stereotypen von Überlegenheit über andere Teile der Welt weit bis ins 21. Jahrhundert überlebt haben?
Christina Schlögl