Nathaniel Hawthorne, Der Scharlachrote Buchstabe
Manesse Bibliothek der Weltliteratur, 1957
Nathaniel Hawthorne (1804-1864) gehört in mehr als nur einer Hinsicht zu einer der wichtigsten Figuren der amerikanischen Literaturgeschichte. Seine Werke sind bekannt für ihre Mehrdeutigkeit, die sie zu einem ästhetischen Vergnügen machen und eine Vielfalt an Lesarten und Interpretationen zulassen. Gleichzeitig behandeln sie Themen und Momente der amerikanischen Siedlungsgeschichte, was dazu beiträgt, dass Hawthorne bereits zu Lebzeiten als einer der Begründer einer neuen, originär amerikanischen, Literatur gilt. Drittens erfährt der Autor einen seinerzeit ungewöhnlich großen kommerziellen Erfolg, sodass er sich und seine Familie vom Schreiben ernähren kann, wenn auch nur zeitweise.
Bevor ihm das jedoch gelingt, nimmt er für ihn wenig interessante Verwaltungstätigkeiten, etwa beim Zoll oder der Post, an. Diese Zeit seines Lebens findet Niederschlag in der einführenden Rahmenerzählung des Buchs, dessen Erzähler mit leicht satirischem Unterton den langweiligen Alltag in einem Bostoner Zollhaus kommentiert. Mit dem Fund eines historischen Dokuments in besagtem Zollhaus setzt die Binnenerzählung ein, die nicht zu Beginn des 19., sondern zwei Jahrhunderte früher, im 17. Jahrhundert und damit zur Zeit der puritanischen Siedler spielt.
In solch einer fiktiven puritanischen Dorfgemeinschaft wird der alleinstehenden Hester Prynne ein uneheliches Kind geboren. Weder im Gefängnis noch am Schafott gibt sie den Namen des Vaters preis, woraufhin man sie dazu verdammt, fortan als Zeichen ihrer Sünde den scharlachroten Buchstaben „A“ gut sichtbar auf ihrer Brust genäht zu tragen. Die Frau erträgt ihre Strafe mit Würde und ihre beachtlichen Nähkünste verdienen ihr den Respekt einiger Dorfbewohner. Als jedoch ihr verschollen geglaubter Ehemann auftaucht, spitzen sich die Ereignisse zu…
Die genaue Bedeutung des scharlachroten Buchstaben hat seit jeher viel Spekulation auf sich gezogen. Am geläufigsten ist die Lesart wonach das „A“ als Abkürzung für „adultery“ , also Ehebruch, steht. Jedoch wird die Bedeutung des Buchstaben in der Erzählung selbst nie erwähnt, weshalb auch andere Wörter, von „Art“ (Kunst) bis hin zu „America“ vorgeschlagen wurden. Eine allegorische Lesart, nach der hier grundsätzliche Konflikte der amerikanischen Gründungsidee verhandelt werden, ist gar nicht so weit hergeholt. Denn darum geht es: Gesellschaft gegen Individuum, persönliche Freiheit gegen allgemein gültige Moralvorstellungen, Zivilisation gegen Wildnis.
Man kann in dem Buch eine Kritik an den streng religiösen Gründern der neuenglischen Kolonien sehen, die zwar dafür gekämpft haben ihr Leben nach eigenen Vorstellungen gestalten und in Freiheit leben zu können, zugleich aber die Freiheiten anderer drastisch einschränken. Man denke nur an die berühmten Hexenprozesse von Salem, auf die auch Hawthornes Kurzgeschichte „Young Goodman Brown“ (dt. „Gevatter Braun“) Bezug nimmt. Diese Auseinandersetzung des Autors mit den puritanischen Wurzeln seines Landes ist kein Zufall: Sein Ururgroßvater war einer der Richter den Prozessen. Hawthorne lässt sogar seinen Namen ändern, um die Verbindung weniger offensichtlich zu machen.
Mit der Veröffentlichung des Romans beginnt die kommerziell erfolgreichste Phase von Hawthornes Leben. Es ist eins der ersten in Serie gedruckten, also mit einer mechanischen Druckpresse hergestellten, Bücher der amerikanischen Literaturgeschichte. Ganze 2.500 Exemplare werden innerhalb von knapp zwei Wochen verkauft. Damit schafft es „Der Scharlachrote Buchstabe“ die Brücke vom Zollamt zur Schreibkunst zu schlagen – in der Erzählung und in der realen Welt.
Teresa Teklić