Sarah Orne Jewett, Der weiße Reiher. Erzählungen aus dem Land der spitzen Tannen
Manesse Bibliothek der Weltliteratur, erschienen 1966
Zu Lebzeiten gilt Sarah Orne Jewett (1849-1909) als eine der besten amerikanischen Autorinnen im Genre der Kurzgeschichte. Dass ein Autor unmittelbar nach Veröffentlichung seiner Werke so großen Erfolg erlebt und diese es trotzdem auf eine Liste von Büchern nationaler oder sogar weltliterarischer Bedeutung schaffen, ist eher ungewöhnlich. Viele Werke sogenannter Weltliteratur werden erst lange nach dem Ableben ihres Autors wirklich berühmt. Jewett, die als Tochter eines Landarztes an der Küste Neuenglands aufwächst, veröffentlicht ihre Kurzgeschichten vor allem in bekannten Zeitschriften wie Harper’s oder The Atlantic, bevor sie in Sammelbänden wie dem vorliegenden erscheinen.
Der Titel der Geschichtensammlung, „Erzählungen aus dem Land der spitzen Tannen“, ebenso wie „Der weiße Reiher“, eine ihrer besten Geschichten, verweisen bereits auf das Hauptthema ihres Schaffens. Der „weiße Reiher“ deutet auf die Natur, die oft ein zentrales Thema ihrer Erzählungen ist, häufig im Gegensatz zu den verstärkt auftretenden Prozessen der Urbanisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das „Land der spitzen Tannen“ ist die Küste Neuenglands und Jewetts Werk ein Versuch, die Region und ihre Bewohner, ihre Landschaft, Bräuche, Dialekte und Eigenheiten einzufangen. Der englische Begriff für diesen Stil, „local color“, fängt das Anliegen ihrer Literatur besser ein als deutsche Worte es vermögen, ähnlich wie der „sketch“, eine Art Kurzgeschichte, die aber wenig handlungsorientiert ist, und vielmehr eine charakteristische Zeichnung, eine „Skizze“ eben. Zeitgenössische Kritiker sollen dazu mehr als einmal bemerkt haben, wie überrascht sie seien, dass ihnen die Erzählungen so gut gefielen. Denn obwohl es ihnen an Plot und Spannung mangelt, seien sie trotzdem bezaubernd.
Jewetts Erzählungen werden getragen von gewöhnlichen Menschen, ihren Beziehungen zu ihrer Lebenswelt und zu anderen Menschen. Was Jewett außer dem kontrastreichen Verhältnis von Stadt und Land, von Zivilisation und Natur noch interessiert, ist die Kunst der Freundschaft. Ihre Literatur schafft Momente der Verbundenheit zwischen fiktiven Personen, aber auch immer wieder ein transzendentales Moment, das über den Text hinaus geht und den Leser miteinbezieht. So antwortet Jewett auf den Brief von einem Fan ihrer Arbeiten und bekräftigt ihn weiter zu lesen: „Bücher werden einem immer das Glück bereiten, dass man in ihnen Freundschaften findet, und je älter man wird, umso erfreulicher wird dies. Und dann können uns die Menschen in den Büchern helfen, „echte“ Menschen besser zu verstehen, zu verstehen, warum sie die Dinge tun, die sie tun, und so lernen wir Mitgefühl und Geduld und Begeisterung für jene, mit denen wir leben, und können ihnen helfen bei dem, was sie tun, anstatt halb misstrauisch zu sein und etwas Schlechtes an ihnen zu finden.“
Teresa Teklić