William Shakespeare, Die Sonette
Manesse Bibliothek der Weltliteratur, 1983
Heute bringen wir William Shakespeare vorranging mit seinen Dramen in Verbindung. Fällt der Name des wohl berühmtesten englischen Dichters, denken wir an Hamlets „Sein oder nicht sein“ oder den verzweifelten Ausspruch Richards III, der „ein Königreich für ein Pferd“ geben würde. Dabei war Shakespeares Lyrik zu Lebzeiten bekannter als seine Dramen.
Shakespeares Sonette, ein Groß-Zyklus bestehend aus 154 einzelnen Gedichten, stehen in der langen Tradition europäischer Sonettdichtung, die im 14. Jh. mit Francesco Petrarca ihren Anfang nimmt. Petrarcas Gedichte, in denen er seine Geliebte Laura preist, werden zur Vorlage für das sogenannte italienische Sonett, das die Schönheit der Angebeteten häufig in einer standardisierten Bildsprache beschreibt: die Augen funkelnd wie Sterne, die Lippen rot wie Rosen, die Haut weiß wie Schnee. Obwohl Sir Thomas Wyatt das Sonnet in England bekannt macht, sind es doch Shakespeares Verse, in denen das englische Sonett die Form höchster Vollendung findet.
Mit dem englischen Sonett weicht Shakespeare nicht nur in der Form von seinem italienischen Vorfahren ab, er spielt auch mit etablierten Konventionen, verdreht sie, parodiert sie. So beginnt Sonett 130 beginnt mit den Zeilen „Der Liebsten Aug' ist nicht wie Sonnenschein, / Nicht wie Korallen rot der Lippen Paar, / Gilt Schnee als weiß, muß braun ihr Busen sein, / Sind Haare Draht, ist schwarzer Draht ihr Haar.“ Das lyrische Ich, das sich in diesen Zeilen Ausdruck verschafft, hält offensichtlich nicht viel von derart „verlognen Gleichnissen“ und rühmt sich stattdessen einer Geliebten, die ihm mehr wert ist als solch hohle Worte. Damit entwickelt Shakespeare in den Sonetten eine Auffassung von Liebe, die häufig psychologisch komplexer und nuancierter ist als die seiner Vorgänger.
Doch so sehr Shakespeares Dichtung einerseits von außergewöhnlich großer formaler Komplexität, Vielschichtigkeit und Bedeutungsreichtum gekennzeichnet ist, so einfach, direkt und derb ist sie andererseits. So mahnt der Sprecher in Sonett 3 sein Gegenüber, er solle sich schleunigst darum kümmern Nachfahren in die Welt zu setzen, denn er werde langsam alt und Kinder seien schließlich das beste Mittel das eigene Antlitz der Nachwelt zu vererben. Es könne wohl auch nicht so schwer sein ein Weib zu finden, das ihren „Acker“ nicht gerne von ihm „pflügen“ lassen würde. Hier schafft der Dichter mit einer klugen bildsprachlichen Verquickung von Natur und Mensch zudem großartige Unterhaltung.
Liebe und Schönheit, Mensch und Natur, Leben und Tod, Vergänglichkeit, Ruhm und Neid gehören zu den zentralen Themen des Sonett-Zyklus. Dieser wird in verschiedene Abschnitte unterteilt, je nachdem an welchen Adressaten sich die jeweiligen Sonette richten: einen jungen Mann („Fair Youth“), einen Dichterrivalen und eine dunkle Geliebte („Dark Lady“). Dass es sich hierbei um Liebeslyrik an einen männlichen Adressaten handelt ist eine der aufsehenerregendsten Innovationen Shakespeares im Vergleich zur petrarkischen Dichtung, die ausschließlich idealisierte Frauenbilder zum Gegenstand hat. Die Frage, welche reale historische Person sich hinter dem Pseudonym „Fair Youth“ verbirgt, ist seit Jahrhunderten Gegenstand umfangreicher Diskussionen. Die der Widmung des Gedichtbandes entnommenen Initialen W.H. lassen mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Henry Wriothesley, 3rd Earl of Southampton, oder William Herbert, 3rd Earl of Pembroke, schließen. Eine alternative Theorie schlägt vor, dass W.H. lediglich ein Druckfehler von W.S. und der Dichterfürst selbst gemeint sei. Mit Sicherheit wissen werden wir es vielleicht nie.
Teresa Teklić