Geld und Beziehung I: Individuum
Das Ich, unser Selbst, ist für uns eine Grundtatsache. Für die längste Zeit ihrer Geschichte aber kennen die Menschen ein solches Ich nicht. Es gehört der Neuzeit an, dem Zeitalter einer über Geld vermittelten Gesellschaft. Sie ist es, die dieses Ich hervorbringt und bedingt.
Denn innerhalb einer solchen Gesellschaft – und nur in ihr – gilt: Das Geld macht jeden unbedingt zu seinem individuellen Bezugspunkt, da jeder Einzelne als Geldbesitzer fungiert. Geld selbst besteht dort ausschliesslich als etwas, das jemand zum Eigentum hat. Und jeder Einzelne muss es besitzen, um zu überleben. Der Bezug jedes Einzelnen auf das Geld, das er hat und zur Verfügung hat, macht also ein Zentrum seines Lebens aus. Gleichzeitig ist es genau dieser individuelle Bezug auf Geld, der jeden einzeln an alle anderen Menschen bindet, ihn als Geldbesitzer an sämtliche andere ebenfalls als Geldbesitzer: Denn nur von ihnen kann er Geld bekommen und nur von ihnen kann er etwas für sein Geld bekommen.
Der abstrakte Einzelne gegenüber einer abstrakten Gesamtheit
Diese Gesamtheit, dieses «alle anderen Menschen», ist daher zwar höchst real, zugleich aber unbestimmt, leer und zutiefst abstrakt. Dieses Gesamt ergibt sich ja nicht dadurch, das der Einzelne jeweils alle diese anderen Menschen konkret kennen würde, sondern es ergibt sich allein durch den abstrakten, nämlich in Geld bestehenden Bezug jedes Geldbesitzers auf virtuell alle anderen Geldbesitzer. Dieses Gegenüber von je Einzelnem und abstraktem Gesamt ist das notwendige und unausweichliche Ergebnis von Geld – vom Geld einer geldvermittelten Gesellschaft. Und so bedingt es diese Art Vorstellung eines jeden von sich selbst als dieses abstrakten Einzelnen einer abstrakten Gesamtheit gegenüber.
Wer bin ich?
Deshalb aber ist auch niemand einfach und ursprünglich dieser Einzelne. Sondern er sieht sich nur zugleich als diesen Einzelnen – der er für sich genommen nicht ist. Deshalb bleibt der Inbegriff dieser Vereinzelung, das Ich, jedem zugleich auf immer fremd: Es tritt ja zu dem, was jeder nun einmal ist, abstrakt erst hinzu. Dieses Ich ist deshalb dadurch gekennzeichnet, dass es immer erst noch gefunden werden muss, es ist nicht da, sondern das stete Objekt einer Ich-Findung. Die Frage: «Wer bin ich?» führt nicht, wie wir glauben, auf den Kern eines Selbst, sondern zeugt von einer Trennung von «wer» und «ich», die sich nicht schliessen kann, weil sie als diese Trennung besteht: das Ich als immerwährendes, uneinholbares Projekt.
Und als tief belastendes Projekt. Denn wirksam ist es nicht nur als die psychologische Tatsache – Freud bestimmt das Ich als Funktion –, sondern alle sind dem, wodurch es bedingt ist, als einer ständigen Belastung ausgesetzt: Sie haben sich auf dem Markt zu behaupten, sich selbst und als Selbst, nämlich in Konkurrenz zu jenem abstrakten Gesamt. Was sie sich aber dafür antun müssen, erheben sie paradoxerweise zu einem Ideal: die Identität, das Selbst, das sie finden wollen.