Klimawandel - 1816: Das Jahr ohne Sommer
1816: Das Jahr ohne Sommer
Sie kennen die Zahlen. Bis zum Jahr 2100 steigt die durchschnittliche Temperatur bis zu vier Grad. Die Polkappen schmelzen, der Meeresspiegel steigt, und die Küsten werden überflutet. Ein Horrorszenario, das uns kalt lässt. Das Jahr 2100 ist noch ganz weit weg.
Was aber wäre, wenn die Klimakatastrophe heute stattfände? Sie denken, das ist unmöglich? Dann lassen Sie sich die Geschichte vom Jahr ohne Sommer erzählen.
Auf der Insel Sumbawa, am anderen Ende der Welt, schläft ein Vulkan namens Tambora. Er misst 2.850 Meter. Vor seinem letzten Ausbruch, am 5. April 1815, war er noch 4.300 Meter hoch. Es war eine unvorstellbare Katastrophe. Noch auf den Molukken, rund 1.400 Kilometern entfernt, hörte man die Explosion. Im Umkreis von mehr als 600 Kilometern wurde der Tag zur Nacht, weil Aschewolken die Sonne verdeckten. 150 Kubikkilometer Material blies der Vulkan in die Stratosphäre.
Winde trugen die feinen Partikel rund um die Welt. In London, Greifswald, New York und wahrscheinlich auch in Peking und Bombay freuten sich die Spaziergänger an prachtvollen Sonnenuntergängen, die in Orange, Rot, Purpur und Violett glühten. Niemand war sich bewusst, dass sie eine Klimakatastrophe ankündigten.
Die kam 1816. In Indien entfiel der Monsun. China litt unter gewaltigen Überschwemmungen und großer Kälte. In den USA wechselten im August die Temperaturen zwischen Hitze am Tag und Frost in der Nacht. Kälte und schwere Regenfälle machten den Bauern in Großbritannien und Irland zu schaffen. Überschwemmungen, Kälte und Dunkelheit herrschten in Deutschland. In der Schweiz schneite es auch im Sommer, und das bis hinunter in die Täler. Die Gletscher dehnten sich aus. In Norditalien fiel roter Schnee. Kurz, fast alle Nationen waren vom schlechten Wetter betroffen und mussten mit Ernteausfällen rechnen. Jeder wusste, dass eine Hungersnot bevorstand. Was sollte man tun?
Die Frage stellten sich viele Regierungen. Denn ihre Lage war unerfreulich. Napoleon hatte Europa völlig umgestaltet. Württemberg zum Beispiel hatte durch die napoleonische Flurbereinigung seine Einwohnerzahl verdoppelt. Und die neuen Bürger waren nicht loyal! Sie trauerten der alten Zeit nach. Die Regierung musste sich ihr Vertrauen erst verdienen. Das war nicht nur in Württemberg so. Die Obrigkeiten waren überall unter Zugzwang. Ihre neuen Untertanen maßen sie an ihrer Reaktion auf die Krise.
Maßnahmen gegen die Hungersnot
Das vordringlichste Problem war es, die hungernden Menschen satt zu bekommen. Das war schwierig, denn vor Napoleon war Armenpflege eine Sache der Kirche gewesen. Diese Strukturen existierten nicht mehr. Deshalb waren die Regierungen gefordert und finanziell überfordert. So suchten sie Rückendeckung bei der Zivilgesellschaft. Die württembergische Königin animierte wohlhabende Männer und Frauen, Wohlfahrtskomitees zu gründen. Solche Armenvereine bildeten sich bald in ganz Europa und Nordamerika. Auf Kosten der Reichen erhielten die Hungernden jeden Tag ihren Teller voll Rumfordsuppe, ein Gemisch aus Graupen und gelben Erbsen, das pro Portion nur 3 Pfennige kostete und trotzdem satt machte.
Die Menschen brauchten Getreide. Also musste der Getreidehandel gefördert werden. Zu diesem Zweck beseitigten viele Regierungen ihre innerstaatlichen Zollschranken und erschwerten den Export in andere Gebiete. Die Erfahrung, welch großen Einfluss Zollgrenzen auf den Handel hatten, veranlasste Politiker in den kommenden Jahrzehnten, ihre Zollpolitik bewusst zu gestalten und Zollvereine zu gründen.
Doch 1816 reichte diese Maßnahme nicht. Nur Russland verfügte über bedeutende Überschüsse an Getreide. Russisches Korn musste importiert werden. Damit war der Einzelne überfordert. So schlossen sich wohlhabende Bürger zusammen und gründeten Kornvereine, um in Russland Getreide zu kaufen und es in die Heimat zu transportieren.
Natürlich hatten solche Aktivitäten eine Auswirkung auf die Zivilgesellschaft. Die Hungernden wurden satt. Und ihre Helfer erlebten sich als Staatsbürger, die Verantwortung übernahmen und dadurch Einfluss besaßen.
Während die ärgste Not noch bekämpft wurde, plante man bereits, wie man die vielen entwurzelten Menschen wieder in Lohn und Brot bringen könnte. Sie brauchten einfache Arbeiten, für die keine Vorkenntnisse erforderlich waren. Regierungen und bürgerliche Unternehmen setzten auf eine Erneuerung der Infrastruktur.
Man baute Kanäle. Das Königreich Bayern einigte sich mit der Markgrafschaft Baden auf die Begradigung des Rheins. Bei Heilbronn entstand der Wilhelmskanal, bei New York der Erie-Kanal.
Und man baute Straßen. In Bayern wurden alle Städte durch Chausseen miteinander verbunden. In der Schweiz entstand der Fahrweg über den San Bernardino und den Julier. Und das sind nur einige Beispiele. Denn als man wahrnahm, wie positiv sich die neuen Straßen und Kanäle auswirkten, mochte man gar nicht mehr aufhören mit dem Bauen.
Das Hungerjahr endete im Sommer des Jahres 1817. Nie wurde Erntedank feierlicher begangen. Die Obrigkeit erfand eine Zeremonie, um die ersten Erntewagen zu begrüßen und verkündete so ihren Bürgern, dass nun eine bessere Zeit beginnen würde.
Reformation der Landwirtschaft
Dafür war es nötig, die Landwirtschaft zu reformieren. Modernste Methoden für Anbau und Viehzucht sollten die Effektivität erhöhen und eine neue Hungerkrise verhindern. Der Staat leistete sich zu diesem Zweck gut bezahlte Wissenschaftler. Viele landwirtschaftliche Forschungsinstitute wurden nach 1817 gegründet und entwickelten Ideen, wie man ihre Erkenntnisse der einfachen Bevölkerung schmackhaft machen könnte. Man veranstaltete dafür Wettbewerbe und landwirtschaftliche Leistungsschauen, zu denen die Bevölkerung aus dem ganzen Land strömte.
Bald erzielte man überall mit weniger Arbeit größere Ernten. Arbeitskräfte wurden frei. Sie fanden neue Aufgaben in den aufstrebenden Fabriken. So schuf die Bewältigung der Hungerkrise die Voraussetzung für den Strukturwandel der Industrialisierung.
Noch etwas hatten die Regierungen gelernt. Auch der Arme muss in guten Zeiten sparen, um sich selbst in der Not helfen zu können. Dafür musste man ihm aber auch die Möglichkeit bieten. Viele Versicherungen und vor allem Sparkassen wurden nach 1817, oft mit staatlicher Beteiligung, gegründet. So konnte jeder sein Geld sicher anlegen, bis er es brauchte.
Der Klimawandel, den der Ausbruch des Tambora verursacht hatte, veränderte die Welt – in vieler Hinsicht. Das Entscheidende aber war vielleicht, dass die Hungerkrise neu definierte, was unter einer guten Regierung zu verstehen ist: Eine gute Regierung übernimmt Verantwortung für ihre Bürger, auch und gerade für die Schwächsten.