Lukas Hartmann - Ein Bild von Lydia
Diogenes Verlag 2018
Im April 2018 wird Lukas Hartmanns Buch im Literaturclub des SRF besprochen. Das Auffälligste an der Diskussion: Es geht ein Graben durch die Geschlechter. Wo die Männer dem Buch schattenhafte, nicht wirklich greifbare Figuren attestieren, lesen die Frauen zwischen den Zeilen und heben den originellen Zugang zur Protagonistin Lydia Welti-Escher hervor.
Das Leben von Lydia Welti-Escher – Tochter des legendären Alfred Escher und Ehefrau von Bundesratssohn Emil Welti – spielt sich in der Villa Belvoir im Zürcher Engequartier ab. Lydia ist eine junge Frau in der gehobenen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, umrahmt, wenn nicht eingequetscht, von Elite-Männern. Das privilegierte Leben gehorcht strengen gesellschaftlichen Regeln – bis ein weiterer Mann, der Maler Karl Stauffer, in Lydias Leben tritt. Der Skandal lässt nicht lange auf sich warten.
Lydias Schicksal fordert auf, sich mit einer Gesellschaft auseinanderzusetzen, die tief gespalten ist. Die Escher-Erbin wird ausschliesslich aus Sicht ihres Dienstmädchens Louise porträtiert. Mit dieser Perspektive zeigt Hartmann die Kluft zwischen Arm und Reich auf, ohne sie direkt zu thematisieren. Zutiefst gespalten ist die Gesellschaft aber auch durch die Geschlechter. In beiderlei Hinsicht spiegelt der Umgang mit Geld den tiefen gesellschaftlichen Graben.
Eines ist klar: Für das Establishment existiert die arme Bevölkerungsschicht nur in ihrer Funktion. In ihrer Funktion als Dienende. Das heisst nicht, dass man sie nicht nett behandelt. So wie Lydia ihrer Bediensteten Louise gut gesinnt ist, die im Laufe der Geschichte zu ihrer treuen Vertrauten wird. Je weniger Lydia zur Gesellschaft gehört, desto enger bindet sie sich an Luise.
Zutiefst gespalten ist die Gesellschaft aber auch durch die Geschlechter. Lydias Vergehen liegt darin, dass sie mit dem Maler Stauffer nach Rom durchbrennt. Ein Gesellschaftsskandal par excellence. Um jeden Fall muss verhindert werden, dass der Skandal die Bundesratsfamilie Welti mit in die Tiefe zieht. Der Bundesrat war schon durch die psychische Erkrankung seiner Frau gefährdet. Ist es ein Zufall, dass sowohl Lydia in Rom wie auch ihre Schwiegermutter in der Schweiz in einer psychiatrischen Klinik untergebracht wurden? Ist es die Antwort der einflussreichen Männer auf Frauen, die sich dem gesellschaftlichen Druck nicht mehr beugen?
Lydia ist die Alleinerbin ihres Vaters. Durch ihre Heirat mit dem Welti-Sohn droht sie ihr Vermögen an ihren Mann zu verlieren, insbesondere nach der Scheidung, die dem Eklat unweigerlich folgt. Doch sie kann einen Teil ihres Erbes behalten. Ausgestossen von der Gesellschaft lebt sie in der Nähe von Genf, wo sie ihr Leben selbst beendet. Zuvor hat sie ihr Lebensziel verwirklicht und eine Kunststiftung unter dem Namen Gottfried Keller-Stiftung gegründet.
Lydia Welti-Escher wurde zwischen Geld und Kunst aufgerieben. Aufgewachsen in einer reichen Familie, hatte sie von jung an Zugang zur Kunst, die sie faszinierte. Die Liaison mit dem Künstler Stauffer hat ihr gesellschaftlich das Genick gebrochen. Wenn man sich vorstellt, welche Möglichkeiten diese Frau gehabt hätte, wenn sie sich schon vorher aus den gesellschaftlichen Fesseln hätte befreien können.
Ursula Kohler