«Ich bin nicht Stiller!», Max Frisch, 1954
«Ich bin nicht Stiller!» So beginnt eines der bekanntesten Bücher von Max Frisch. Wieso weigert sich einer vehement dagegen, mit Anatol Ludwig Stiller in Verbindung gebracht zu werden?
Dabei handelt es sich um einen Mann namens Jim White, der nach Jahren im Ausland in die Schweiz zurückkehrt und an der Grenze verhaftet wird. Im Gefängnis beginnt er auf Anraten des Staatsanwalts ein Tagebuch zu führen, das dem Leser, der Leserin Einblick in sein Leben gibt – rein subjektiv. Seine Ehefrau Julika, Bruder Wilfried und Freunde besuchen ihn im Gefängnis. Eines Tages wird er in seinem ehemaligen Bildhaueratelier mit dem alten Stiefvater konfrontiert. Doch alles nützt nichts. Der Mann weigert sich, seine Identität anzuerkennen. Warum? «Ich bin nicht ihr Stiller», heisst es an anderer Stelle. Dies ist einer der Schlüsselsätze im Buch. Stiller wollte sein altes Leben ablegen, ein Leben, das er als nicht gelungen betrachtet. Zum Schluss wird er per Gericht gezwungen, seine alte Identität wieder anzunehmen.
Doch warum ist er zurückgekehrt? Der Liebe wegen. Auch wenn die Beziehung zwischen der zarten Balletttänzerin Julika und dem Bildhauer Stiller im Alltag nicht bestehen konnte, hat Stiller nie aufgehört, seine Frau zu lieben. Das Drama nimmt zurück in der Schweiz seinen Verlauf ...
«Stiller» erscheint 1954 im Suhrkamp-Verlag. Es ist das erste Buch des Verlags, das die Millionenhöhe erreicht. Max Frisch hilft es zum literarischen Durchbruch. Das Buch wird in die ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher aufgenommen und ist bis heute populär geblieben.
«Stiller» ist das einzige Buch, das ich dreimal gelesen habe – in unterschiedlichen Lebensphasen. Jedes Mal war es ein Genuss. Keine Frage, das Buch ist spannend geschrieben. Was es darüber hinaus ausmacht, sind seine Grundthemen. Da geht es zuallererst um die Frage nach der Identität. Kann man diese einfach ablegen, wenn man sein Leben als misslungen betrachtet? Es geht auch um Selbst- und Fremdwahrnehmung. Stiller wehrt sich gegen das Bild, das sich die Gesellschaft von ihm macht. Bis zuletzt. Frisch zeichnet mit «Stiller» aber auch das Beziehungsgeflecht eines Paares auf. Diesen psychologischen Feinheiten kann sich kaum jemand entziehen. Fast fühlt man sich als Leser, Leserin ertappt. Ah, so ist das.
Erinnern und Vergessen, Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft: Frisch spielt mit der Zeit, die letztlich ein ganzes Leben umfasst.
Ursula Kohler