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Charles Dickens, Große Erwartungen

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Publiziert von Manesse, Bibliothek der Weltliteratur, 1947

 

Mit Werken wie „A Christmas Carol“ oder „Oliver Twist“ gehört Charles Dickens bis heute zu den bekanntesten englischen Schriftsteller des viktorianischen Englands. Als Autor ist er schon zu Lebzeiten überaus erfolgreich. Sein Roman „Große Erwartungen“ wird, wie die meisten seiner Werke, nicht auf einmal veröffentlicht, sondern wöchentlich in Episodenform in Zeitungen abgedruckt. Damit gilt Dickens häufig als Erfinder des seriellen Erzählens, das aktuell im Medium Fernsehen eine Renaissance erlebt. Die Veröffentlichung in mehreren Teilen erlaubt es Dickens die fiktionalen Ereignisse und Figuren den Vorlieben des Publikums anzupassen, eine Strategie, die auch heute von Produzenten wie Netflix gerne zur Steigerung  der Einschaltquoten genutzt wird.

Als Bildungsroman folgt „Große Erwartungen“ der persönlichen und moralischen Entwicklung der Hauptfigur Pip, einem mittellosen Waisenjungen, der unerwartet zu Geld kommt. Finanziert von einem unbekannten Gönner kann er sich als junger Mann den sozialen Aufstieg in die besseren Schichten Londons leisten, bis ihm eines Tages klar wird woher das Geld eigentlich stammt. Sein Wohltäter ist nicht, wie bisher angenommen, die kauzige Witwe Havisham, sondern der Kriminelle Magwitch, dessen Wege Pip in seiner Kindheit gekreuzt hat. Geschockt von dieser neuen Erkenntnis beschließt Pip das Geld nicht mehr anzunehmen.

Themen wie Armut, Kriminalität und gesellschaftlicher Aufstieg sind typische Motive für Dickens, der sich in seinen Werken stets mit seiner Zeit und Gesellschaft auseinandersetzt. Die kritischen Untertöne des Romans suggerieren eine Korrelation zwischen zunehmendem Wohlstand und moralischem Verfall. Eine andere zentrale Frage, die „Große Erwartungen“ aufwirft, ist die nach der Legitimation von Reichtum. Der Roman kontrastiert zwei Arten von Reichtum: Miss Havishams, der gesellschaftlich angesehen ist, obwohl er sich auf der Arbeit anderer begründet, und den selbst erarbeiteten Reichtum von Magwitch, der jedoch aus seiner Arbeit in einer Sträflingskolonie in Australien stammt und damit gesellschaftlich nicht akzeptiert wird.

Wie sich die Maßstäbe zur Bemessung des verdienten oder unverdienten, moralisch gutzuheißenden oder inakzeptablen Wohlstands heute verschoben haben, verhandelt auch der amerikanische Erfolgsautor Jonathan Franzen in seinem neuesten Roman „Unschuld“. Indem er Dickens‘ Plot lose aufgreift, überträgt er die Frage nach Geld und Moral ins 21. Jahrhundert. Seine Protagonistin trägt nicht nur den gleichen Namen wie Dickens‘ Held Pip, sie wächst auch als eine Art Halbwaise auf und wird ebenfalls mit einem Erbe konfrontiert, das laut ihrer Mutter aus kriminellen Geschäften stammt. In diesem Fall gründet sich der immense Familienbesitz nicht auf der Ausbeutung von Menschen, wie bei Miss Havisham, sondern auf der Ausbeutung von Tieren; die Verbrecher des 21. Jahrhunderts sind hier die Großindustriellen und Fleischproduzenten. Doch die Frage nach dem Geld und der Moral ist keineswegs einfach. So zeigt „Unschuld“, dass der moralische Absolutismus von Pips Mutter, durch den sie verschuldet und in Armut lebt, auch keine haltbare Alternative ist.

 

Teresa Teklić

 

 

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