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Die Arbeiterin in Zürich um 1900

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Zürich um 1900: Tausende von Frauen arbeiten Tag für Tag in Fabriken, die bis ins Stadtzentrum vorgedrungen sind. Mit grosser Mühe betreuen sie neben einem enormen Fabrikpensum ihre Familie. Es sind Arbeits- und Wohnverhältnisse, wie sie heute nur schwer vorstellbar sind. Die Arbeiterschaft verbündet sich. 1888 wird die Sozialdemokratische Partei und zwei Jahre später der Schweizerische Arbeiterinnenverband gegründet.

Anschaulich verknüpft Hans Peter Treichler das spannungsreiche Leben von Verena Conzett (1861 bis 1947) mit der politisch bewegenden Zeit um 1900 in Zürich.

Die vorliegende Publikation ist im Zusammenhang mit der gleichnamigen Ausstellung im MoneyMuseum entstanden, die Jürg Conzett im Andenken an seine Urgrossmutter lanciert hat.

Der Blick ins Buch hier

 

Zürich Affoltern, morgens um halb fünf: ein langer Zug von Menschen formiert sich in der Mitte des Dorfes. An der Spitze die Arbeiter der Maschinenfabrik Neumühle, dann die Frauen und zum Schluss die Kinder. Rufe hallen durch die Dunkelheit. Das Ziel der Gruppe ist das Fabrikareal im Zentrum Zürichs. Hier treffen sie um 6 Uhr ein, um lange, lange Stunden zu arbeiten, bevor sie den Heimweg antreten. Im Sommer wie im Winter, sechs Tage die Woche.

Am Arm tragen die Frauen einen Henkelkorb. Meist befindet sich darin ein Stück Brot und eine Handarbeit für die kurze Mittagspause.

Die junge Verena Conzett hat diesen Marsch 1874 miterlebt. Wir können uns die Lebensbedingungen kaum vorstellen, unter denen die Menschen ihr Auskommen gesucht haben. Und doch liegen nur wenige Generationen dazwischen. In der einen oder anderen Familie gibt es noch Zeugen, denen ihre Grosseltern oder Urgrosseltern erzählt haben, unter welch harten Bedingungen sie möglicherweise aufgewachsen sind.

Mein Name ist Ursula Kohler, ich bin Programmleiterin des Conzett Verlags und möchte Ihnen in den folgenden Minuten einen kurzen Einblick in diese Epoche geben.

Ausstellung im MoneyMuseum zu Ehren von Verena Conzett

2011 hat Jürg Conzett, Urenkel des ehemaligen Arbeitermädchens Verena, im MoneyMuseum Zürich eine Ausstellung zu Ehren seiner Urgrossmutter lanciert. Anhand ihrer Lebensgeschichte wird die Arbeiterin in Zürich um 1900 in den Mittelpunkt gestellt. Im Begleitbuch zur Ausstellung können wir die Spuren Verena Conzetts durch die Welt der Fabrikarbeiterinnen und innerhalb der Arbeiterinnenbewegung verfolgen.

Wohnungen, die 24 Stunden lang kein einziger Sonnenstrahl erhellt, Schimmel an den Wänden, Wanzen und Mäuse als Mitbewohner, eine Schlafkammer für die vielköpfige Familie. Wir befinden uns mitten in der Altstadt Zürichs. Wo sich heute eine privilegierte Wohnlage befindet, herrschten vor über 100 Jahren slumartige Zustände.

Und zum Essen gibt's Kartoffeln, Kartoffeln und nochmals Kartoffeln. Wie sollen da Kinder, die sich zuhauf aneinanderreihen, gross werden? Mehr schlecht als recht betreut, beide Eltern ganztags in der Fabrik, einseitig ernährt. Kein Wunder, überlebt ein Viertel der Kinder die ersten Jahre nicht. Und was erwartet die Überlebenden? Die Ausweglosigkeit seines Schicksals lässt manchen Arbeiter zum Kartoffelschnaps greifen. Ein Teufelskreis. Die Arbeiterinnen, insbesondere die Mütter, trifft es doppelt schwer. Ihre Arbeit wird weniger entlöhnt, Feierabend ist ein Fremdwort, zuhause wartet die ganze Haushaltsarbeit und Kinderbetreuung auf die Frauen. Probleme genug, um dagegen anzukämpfen. Die Frauen schliessen sich zu Arbeiterinnenvereinen zusammen. Bald schon leitet Verena Conzett den Schweizerischen Arbeiterinnenverband.

Um die immense Leistung dieser Arbeiterinnen, der Frauen, zu würdigen, lohnt sich der Blick zurück.  Oder auch umgekehrt. Lassen wir in Gedanken eine Arbeiterin in unserem Alltag auftauchen. Wie sie vor der Auswahl im Laden steht, im Tram fährt, in einer geheizten Wohnung lebt, Kinder erzieht, die nicht arbeiten, sondern zur Schule gehen.

Nur zwei Generationen liegen zwischen damals und heute. Wie ist der Wandel, der die Schweiz zu einem der reichsten Länder der Welt gemacht hat, möglich geworden?

Verena Conzett: eine Vertreterin des Wandels

Verena Conzett selbst ist eine Vertreterin dieses Wandels. Als ehemaliges Arbeitermädchen, als Witwe und Mutter hat sie es geschafft, ein gut florierendes Verlagshaus aufzubauen. Sie hatte die Kraft, die Energie und den Willen. Zugute gekommen ist ihr ein Land, das von beiden Weltkriegen verschont wurde. Sie war sich harte Arbeit und Bescheidenheit gewohnt. Vergleicht man ihr Schicksal mit demjenigen anderer Arbeiterinnen, dann wurde Verena Conzett mitnichten von harten Schicksalsschlägen verschont. Ihr Mann nahm sich das Leben, ihre beiden Söhne starben an der Spanischen Grippe. Verena Conzett selbst gerät zwischen zwei Welten, in die der Arbeiterschaft, von der sie herkommt, und die der bürgerlichen Existenz, in die sie hineinwächst. Sie wird deswegen auch angegriffen und sieht sich zeitweise einem feindlichen Umfeld gegenüber. Was sagt diese starke Frau selbst zu ihrem Lebensweg?

Das Geheimnis meines Erfolgs besteht darin, dass es mir glückte, stets im richtigen Augenblick zuzugreifen, mutig mir selbst zu vertrauen und trotz Schicksalsschlägen und Hindernissen unentwegt auf das selbstgesteckte Ziel hinzusteuern.

In einem Satz fasst Verena Conzett ihre ganze Lebensweisheit zusammen. Es sind ihre drei grundlegenden Erkenntnisse, die uns als Abschluss zum Denken anregen:

  • Auf das eigene Selbstvertrauen bauen
  • Eine Vision entwickeln und verfolgen
  • Zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein und das Glück des Zufalls walten lassen
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